Als mir klar wird, dass die Eisfläche sich über die komplette Straßenbreite erstreckt, ist es zu spät.
Ich schaffe es bis fast zum Ende, dann rutscht das Motorrad unter mir weg und ich stürze.
Aber zurück zum Anfang.
Wir sind seit fast drei Monaten im Griechenland. Zwei Tage nach unserer Ankunft wurde der pandemiebedingte Lockdown ausgerufen. Wir machten es also wie alle anderen: wir haben uns verkrochen. Ein Apartment gemietet. Lebensmittel eingekauft. Uns zunächst nicht aus dem Haus getraut. Klar, Griechenland war neu für uns und wir hatten keine Ahnung, was geht und was nicht. Wie gehen die Einheimischen mit der Situation um? Sind wir als Reisende unwillkommen? Wir hatten noch kein Bauchgefühl entwickelt, auf das wir hören könnten.
Ein paar Tage und einige Diskussionen später trauen wir uns, zum Einkaufen rauszugehen, obwohl der Supermarkt im Ort auch liefern würde. Und erkennen: alle gehen einkaufen. Eine willkommene Abwechselung. Wiederum einige Tage später trauen wir uns sogar ins Zentrum von Pylos, dort gibt es Läden mit frischem Obst und Gemüse, einen Fischhändler und einiges mehr. Und wir stellen fest: vor den Cafés ist ganz schön was los: Dutzende Griechen stehen mit Kaffeebechern oder Ouzogläsern im Freien und genießen Sonne und Gespräche. Die meisten tragen ihre Masken unterm Kinn, wenn überhaupt. Griechische Ungezwungenheit. Solange die Zahlen hier auf den Dörfern so niedrig sind, sind alle entspannt. Wir lassen uns gerne von der Entspannung anstecken, holen uns Cappuccino und setzen uns auf eine Bank am Hafen.
Die Bucht von Navarino
Einige Emails ans deutsche Konsulat in Patras später sind wir schlauer: die gut zehn Kilometer zum nächsten Strand dürfen wir fahren. Sofort fühlen wir uns leichter, der verordnete Stubenarrest fiel uns in den letzten Tagen immer schwerer. Wir packen Handtücher, Wasserflaschen und etwas zum Knabbern ein und fahren los. Es ist einiges los auf den Straßen. Sind die alle beruflich unterwegs?
Die Bucht von Pylos wird ihrem Ruf voll gerecht: ein kilometerlanger Strand aus feinem, weißen Sand, türkisfarbenes Wasser, wie geschaffen für lange Spaziergänge mit abschließendem Baden. Wir genießen es, rauszukommen und fragen uns, warum wir das nicht schon drei Wochen zuvor gemacht haben.
Wir sind wenig unterwegs, kurze Touren, unternehmen wir aber schon: zum Einkaufen in die nächstgrößere Stadt, zum Reifenwechseln, zum Wandern. Wir klettern zum Palaiokastro hinauf und laufen an der Ochsenbauchbucht zurück. Und wir amüsieren uns über kuriose Ortsnamen auf den Straßenschildern, an denen wir mit unseren Motorrädern vorbeifahren. Hatten wir in Italien schon einen Ort namens Monopoli entdeckt, finden wir hier noch viel schönere: Metamorfosi. Amphithea. Megalopoli. Und Flughafen heißt Aerodrom. Irgendwie logisch. Zum Glück kann ich die griechischen Schriftzeichen entziffern, dauert zwar, aber meist klappt es, und so lache ich so manches Mal in meinen Helm.
Ortswechsel nach 6 Wochen. Von Pylos nach Finikounda
Aber auch, wenn hier auf den Peloponnes die Uhren etwas anders gehen als im Rest von Griechenland: wir befinden uns im Lockdown. Rausgehen ist unerwünscht, und so unternehmen wir abgesehen von Strandspaziergängen und Einkaufen kaum etwas. Und so langsam fällt uns die Decke auf den Kopf. Das Apartment ist geräumig und hat einen tollen Blick auf die Bucht von Pylos, aber es ist auch kalt und schwer zu heizen. Bei Regen läuft Wasser unter den Balkontüren durch in die Wohnung, wenn wir die Läden nicht rechtzeitig schließen. Und manchmal selbst dann. Nach sechs Wochen brauchen wir eindeutig eine Veränderung und beschließen, unseren Mietvertrag nicht zu verlängern, sondern etwas anderes zu suchen. Nur 18 Kilometer von Pylos entfernt werden wir fündig: ein kleines Apartment am Rande von Finikounda. Keine 30 Quadratmeter, Schlafzimmer, Sofa, Küchenzeile, Balkon. Am Hang gelegen, daher einen herrlichen Blick auf Strand und Meer. Die Wohnung ist relativ neu, also wind- und regendicht und über die Klimaanlage auch gut zu heizen. Wir hätten nicht gedacht, dass dies einmal Kriterien für uns werden könnten.
Wir genießen das Meer und die griechische Lebensart
Die nächsten Wochen verbringen wir am Meer. Wir laufen am Strand entlang oder sitzen auf dem Balkon und schauen aufs Wasser. Jeden Tag sieht es unterschiedlich aus. Mal ist es glatt und türkis und erinnert uns an die Karibik. Am nächsten Tag türmen sich die Wellen und es gibt mehrere Wellenkämme hintereinander. Je nach Sonnenstand ist das Wasser tristgrau, tiefblau oder strahlendtürkis. Selbst der Strand verändert sich von Tag zu Tag. Je nach Wetter und Windstärke ist er zwischen einem und fünf Meter breit, sandig oder steinig. Überwiegend sauber und angenehm, bei heftigem Wind auch mal voller Müll. Irgendwann gewöhnen wir uns an, Müllbeutel mitzunehmen. Meist brauchen wir sie nicht, aber manchmal tragen wir den Müll tütenweise zum Container. Dabei fällt uns auf, dass wir nicht die einzigen Müllsammler sind. Ein paar andere Strandspaziergänger sammeln ebenfalls, verschwörerisch grinsen wir uns im Vorübergehen an. Es ist ein gutes Gefühl, zu einem sauberen Stück Natur beizutragen.
Griechen sind außerordentlich freundlich. Auf dem Markt werden Obst und Gemüse erst gewogen, dann bezahlt – und dann wird noch ein bisschen mehr in die Tüte gepackt. Unsere Vermieter bringen alle paar Tage Leckereien vorbei. Galatopita (milk pie) . Apfelsinen. Einen kleinen Plastikweihnachtsbaum. Einmal will ich mich revanchieren und laufe mit frisch gebackener Limettentarte zu ihnen, aber die Revanche klappte nicht: ich komme schwerer beladen wieder ins Apartment zurück als ich losgegangen war. Dafür mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Leider können wir nur mit den Söhnen plaudern, das Paar selbst spricht kein Englisch. Das hält sie allerdings nicht davon ab, uns Geschichten zu erzählen. Mit Händen, Füßen und viel Mimik werden daraus Gespräche, an die wir uns gerne erinnern.
Schnee, Eis und Mandelbäume
So schön es in Finikounda ist, als Dauerreisende werden wir nach ein paar Wochen nervös. Wir wollen etwas anderes sehen, und so beschließen wir, nach sechs Wochen den Vertrag auslaufen zu lassen und weiterzuziehen. Wir buchen uns ein Hotel auf dem zweiten Finger der Peloponnes, der Mani, füttern das Navi und verabschieden uns von den netten Vermietern.
Vielleicht hätten wir bleiben sollen.
Wir fahren bei strahlendem Sonnenschein in Finikounda los, auch für unseren Zielort ist warmes und sonniges Wetter angekündigt. Unsere Lieblingsapp sucht uns eine schöne, kurvige Strecke heraus und wir denken nicht daran, dass wir vor ein paar Tagen Zeitungsbilder mit Schnee und Kälte gesehen haben. Im Gegenteil: wir genießen die Sonne und freuen uns über die blühenden Mandelbäume.
Irgendwann sehen wir den ersten Schnee am Straßenrand, denken uns noch immer nichts. Es ist angenehm sonnig. Aber je höher die Straße auf die Berge führt, desto mehr Schnee sehen wir. Vom Straßenrand aus breitet er sich auf die Fahrbahn aus, irgendwann fahren wir über eine geschlossene Schneedecke. Das an sich ist mit dem Motorrad noch kein Problem, vorsichtig fahren, wenig bremsen, alles gut. Wir denken zwar ans Umkehren, haben allerdings wenig Lust, die ganze Strecke zurückzufahren. Als es wieder bergab geht, unterläuft mir ein Fahrfehler: mein Motorrad wird etwas schneller, und als ich durch eine Matschpfütze fahre, wird mir mulmig. Ich bremse mit der Vorderradbremse, prompt rutscht der Reifen weg und ich stürze. Aber es ist nicht schlimm, wir fahren ja mit kompletter Schutzausrüstung, so dass ich schnell wieder auf den Beinen bin. Ich fluche zwar ein bisschen, hab mir aber nicht weh getan. Wolfgang hilft mir, das Motorrad wieder aufzurichten und ermahnt mich, die Hinterradbremse zu nutzen. So langsam freue ich mich darauf, die große Straße wieder zu erreichen.
Es geht weiter bergab, die Straße liegt in der vollen Sonne. Wir atmen auf, es scheint, als hätten wir das Schlimmste überstanden. Aber weit gefehlt. Denn das Wasser, das über den sonnigen Asphalt fließt, ist auch in den schattigen Kurven nicht verschwunden. Und genau eine solche Kurve wird mir zum Verhängnis: ich sehe Feuchtigkeit in der Kurve und verringere meine ohnehin schon überschaubare Geschwindigkeit. Vermutlich wieder nur Wasser, denke ich mir, und als ich realisiere, dass es sich um eine geschlossene Eisdecke über die komplette Straßenbreite handelt, ist es zu spät zum Reagieren.
Ich tue, was in Gefahrensituationen auf dem Motorrad das Beste ist: lasse meine Africa Twin tun, was sie will. Wenn ich eines in meiner Bikerkarriere gelernt habe, dann, dass ein Motorrad mehr kann als der Fahrer: ich bremse nicht, ich lenke nur unmerklich, halte die Maschine aufrecht und hoffe, mich so bis zum Ende der Eisfläche retten zu können. Die ist aber wirklich lang, an die 50 Meter. Leider klappt der Plan nicht ganz, kurz vorm Ende der Eisplatte rutscht das Motorrad doch unter mir weg und ich stürze. Und ich merke sofort, dass es kein harmloser Sturz ist wie sonst. Ich knie neben dem Motorrad und versuche, meine Atmung zu normalisieren, so schmerzt mein Bein. Zum Glück herrscht kein Verkehr.
Wolfgang hat sein Motorrad in die Böschung rollen lassen, kommt zu mir und hilft mir, mich am Straßenrand hin zu setzen. Wir rufen die 112 und warten dann auf den Krankenwagen. Unterdessen kommt doch ein Auto vorbei, das aber auch an der spiegelglatten Straße scheitert. Der Fahrer, ein junger Mann, hilft Wolfgang dabei, die zweite Africa Twin über die Eisplatte zu transportieren. Dafür legen sie das Motorrad auf den vereisten Boden und schieben es talwärts. Würde mein Bein nicht so schmerzen, wäre es lustig, zu beobachten, wie die beiden kämpfen: auf dem Eis rutschen ihre Füße immer wieder weg. Irgendwann haben sie es aber geschafft und beide Motorräder stehen am Straßenrand.
Im Krankenhaus werde ich geröntgt, schnell stellt sich ein Bruch des Sprunggelenks heraus. Mein Knöchel sieht aus, als hätte er einen Tennisball verschluckt. Nichts Weltbewegendes, muss aber operiert werden. Ich stelle mich darauf ein, einige Tage im Krankenhaus in Kalamata zu bleiben.
Griechische Krankenhäuser – eine Erfahrung
Beim Googlen von „medizinische Versorgung in Griechenland“ finde ich folgenden Satz: aus medizinischer Sicht gut, allerdings heißt das nicht, dass die Bevölkerung gut versorgt ist. Ähnliches hatten wir schon in der Diskussion mit der Reifenhändlerin gehört: die Ausbildung der Mediziner entspricht europäischem Standard und die Krankenhäuser sind ordentlich ausgestattet, aber die Krankenversicherung in Griechenland ist teuer , aber mäßig. Mich beruhigt das ein bisschen. Ich habe ja eine Reisekrankenversicherung. Aktuell interessiert mich vor allem, ob ich mich in Griechenland behandeln lassen soll oder ob ich die Notbremse ziehe und nach Deutschland zurückreise. Ein paar Telefonate später mit Familie, Versicherung und medizinischem Dienst kristallisiert sich heraus, dass wir bleiben: niedrige Coronazahlen in Griechenland im Vergleich zu Deutschland sind einer der Gründe dafür.
Ich werde in ein Dreibettzimmer gefahren, mittlerweile ist es nach acht Uhr abends und ich bin hundemüde. Es wundert mich, dass noch so viele Besucher in den Zimmern sind. Nachdem bei mir gegen Mitternacht noch ein EKG gemacht wurde, wird mir klar, dass die Uhren hier anders gehen. Die junge Frau neben meiner Bettnachbarin macht es sich auf zwei Stühlen gemütlich und schläft. Schon bei dem Anblick bekomme ich Rückenschmerzen. Der Sohn der alten Frau gegenüber bleibt auch über Nacht, er hat ein paar Bierdosen auf dem Nachttisch aufgebaut. Sein Handy klingelt dauernd, Mozarts Kleine Nachtmusik elektronisch. Ich muss grinsen. Die Schmerzmittel wirken, die ganze Situation ist skurril.
Erst am nächsten Morgen wird mir klar: es war kein normaler Besuch, der über Nacht blieb, sondern Angehörige und private Pfleger, die sich um die Patientinnen kümmern, weil es sonst keiner tut. Sie umsorgen sie, waschen sie, unterhalten sie. Ich bin froh, dass ich den Katheter am Tag zuvor abgelehnt habe und mit einer Gehhilfe eigenständig ins Bad kann. Und natürlich bin ich sehr froh, dass Wolfgang sich perfekt um mich kümmert: mich aufheitert, Telefonate mit dem ADAC wegen des Motorrads führt und mir Obst und Getränke mitbringt. Die Schwestern und Pfleger sind auch alle sehr nett. Was im Krankenhaus außerordentlich gut klappt, ist die Versorgung mit Schmerzmitteln, mehrmals am Tag werde ich mit einem Paracetamoltropf versorgt. Über Krankenhausessen könnte ich viel schreiben, meist gab es salzlose Nudelsuppe mit einem Stück Fleisch für mich. Nachdem ich aber feststellte, dass meine Zimmernachbarinnen etwas anderes bekamen, lag es wohl an der bevorstehende OP, dass ich auf Schonkost gesetzt wurde.
Ein paar Tage später: Die OP verlief gut, sechs Tage nach meinem Motorradunfall wurde ich entlassen. Aktuell sitzen wir in einem gemütlichen, kleinen AirBnB-Apartment mit großer Dachterrasse. Das Bein darf vier Wochen lang gar nicht belastet werden, daher hüpfe ich mit Krücken herum und genieße die Sonne und die Aussicht auf die Bucht von Kalamata.
Es gibt eindeutig Schlimmeres.
Gute Besserung und alles Gute aus dem Ruhestand in Norddeutschland. Weber B ist ein alter Bekannter von mir.
Hallo Henning.
Von dir zu lesen zaubert mir ein breites Grinsen ins Gesicht.
Und dass du es endlich geschafft hast, in den Ruhestand zu gehen, freut mich sehr.
Jetzt haben wir noch etwas gemeinsam: viel Zeit, um aufs Meer zu schauen.
Liebe Grüße aus Kalamata
Daniela
Hi Daniela!
..oh, besonders adrett, die getackerte Naht.Ok, Ok – geklammerte Naht.
Ist klammern besser als nähen?
Eis und Schnee fand ich auch immer nahezu unbeherschbar. Wenn die Fuhre da doof kommt,
fängt man sie nimmer. Und zu verhindern, dass sie doof kommt, ist gerade auf Eis auch so ne Sache.
Du hättest es fast geschafft!!
Anyhow – wir beide wünschen dir eine gute Genesung ohne Komplikationen.
…und beneiden euch um den Blick von euerer Terasse …
Liebe Grüße
M&M
Hallo Markus und Marie,
Danke für die lieben Genesungswünsche, kann ich brauchen.
Die 13 Tackernadeln sind schon wieder draußen, der Fuß sieht allerdings ein bisschen nach Frankensteins Monster aus.
Bin aber optimistisch, dass sich das noch ändert.
Den Terrassenblick haben wir gerade bis Ende März verlängert. Bin gespannt, wie die Pandemielage bis dahin ist.
Liebe Grüße nach München auch von Wolfgang!
Daniela
Hallo ihr Weltenbummler,
so eine Situation hatte ich vor Jahren am Plansee, wo es ja bekanntlich immer ein paar Grad kälter ist. Ich brauchte auch Hilfe um die GS über den Rest der Eisfläche zu bugsieren. Zum Glück blieb ich damals unverletzt.
Dir Daniela wünsche ich gute Besserung und euch beiden ein baldiges Ende der „Quarantäne“ …
VG Wolfgang
Danke!
Immer schön, zu lesen, dass es bei anderen auch nicht komplikationslos läuft.
Und solche Geschichten sind ja auch spannender als dauernder Friede-Freude-Eierkuchen mit wolkenlosem Himmel.
Liebe Grüße vom Süden Griechenlands in den Süden Deutschlands.
Daniela