Friedliches Odessa

Wir sind jetzt seit über einer Woche in Odessa – Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen.

Es ist gar nicht so einfach, die Adjektive zu finden, welche die Stadt aus unserer Sicht gut beschreiben: Schön? Ja. Entspannt? Auf jeden Fall. Quirlig? Ja, aber wie die ersten beiden Begriffe ein inflationär benutztes Wort, bei dem Jeder seine eigene Vorstellung hat, was dahinter steht. In einem Coffeeshop in der Sonne diskutieren wir. Und Wolfgang kommt auf „friedlich“. Und genau das ist es.

Odessa ist eine friedliche Stadt.

Natürlich gibt es schnelle und große Autos, aber fast ausnahmslos halten alle an, sobald jemand einen Fuß in Richtung Zebrastreifen setzt. Wir sehen viele Kinder mit entspannten Eltern: wenig Gemurre und Stress. Unsere Lieblingsstory aber ereignet sich an einem Sonntag in einem großen Park: es ist Wahlsonntag, viel los. Viele Familien mit Kinderwagen, Tretroller, Spaziergänger. Auch Elektroroller fahren im Schritttempo durch den Park, die dürfen das hier (bei der Elektromobilität ist die Ukraine uns weit voraus, aber das ist ein anderes Thema).

Wir sitzen auf einer Bank, als ein Harleyfahrer etwas schneller als Schrittgeschwindigkeit an uns vorbeifährt. Ein Mann mit Kinderwagen stellt sich ihm in den Weg. Der Harleyfahrer lenkt nach rechts, der Mann geht zwei Schritte rückwärts und lässt ihn nicht vorbei. Immer noch mit Kinderwagen vor sich. Der Harleyfahrer stoppt den Motor, nimmt den Helm ab, ein junger, langhaariger Kerl. Die zwei reden. Leise. Kein Streit. Austausch von Argumenten. Es endet damit, dass der Kinderwagen-Mann weitergeht und der Harleyfahrer seine Maschine startet und wendet. Der Weg ist leicht abschüssig und nach ein paar Metern stellt der Harleyfahrer den Motor wieder ab und erreicht den angrenzenden Parkplatz leise rollend. Und lässt uns fasziniert zurück. Was für eine Streitkultur.

Über friedlich hinaus lässt sich natürlich noch viel mehr sagen: prächtige Häuserfronten (wenn auch z.T. stark vernachlässigt). Manchmal „wilder“ Straßenbelag oder interessante Lösungen, womit Löcher in Straßen und Gehwegen gefüllt sind (von Schutt, Steinen, Holzstücken, bis zu kompletten Holzkisten haben wir alles gesehen). Viel Kunst und Kultur, sehr viele Statuen. Und die Opernkarten sind billig. Wir haben Parkbänke gesehen, die wie aufgeschlagene Bücher geformt waren, und den „12. Stuhl“ (ein bronzener Stuhl, der die Hauptrolle in einem ukrainischen Buchklassiker spielt).

Wir mögen natürlich die viele Coffeeshops bzw. die unzähligen Kaffeestände an den Straßenrändern und Parks, die meisten haben sogar richtige Siebträgermaschinen.

Und ich freue mich, dass ich in einem Supermarkt mal wieder Sojamilch finde.

6 thoughts on “Friedliches Odessa

  • Ich war nie in Odessa. Jetzt möchte ich die Stadt erleben so, wie du sie jetzt beschreibst. Genießt die Muße

    Antwort
    • Liebe Ludmila,
      Danke!
      Ich habe in der Ukraine öfter an Dich gedacht.
      Zumindest einen Kurzurlaub in Odessa kann ich Dir sehr empfehlen.
      Wir sind mittlerweile in Istanbul. Die Stadt ist sehr anders als Odessa.
      Liebe Grüße,
      Daniela

      Antwort
  • Hi D&W!
    ..wir lesen, schmunzeln, staunen…
    Odessa klingt echt nach ner Empfehlung.
    Jetzt sind wir schon auf die News aus Istanbul gespannt.

    GlG
    M&M

    Antwort
    • Hallo, Ihr beiden,
      ja, Odessa ist echt empfehlenswert!
      Aus Istanbul sind wir heute früh weggefahren, aber haben gerade gar keine Zeit zum Schreiben.
      Troja ruft. 🙂
      Liebe Grüße,
      Daniela

      Antwort
  • Warum setzen die denn Darth Vader eine Statue?

    Antwort
    • In 2015 wurden aus politischen Gründen alle Leninstatuen in der Stadt entfernt.
      Bei einer hat ein Künstler eingegriffen und sie abgewandelt. Mit den Stiefeln und dem Mantel war die grundsätzliche Form ja schon da.
      War aber gar nicht so einfach, zu der Statue vorzudringen, sie steht auf Privatgrund und die ersten beiden Securitymänner haben uns weggeschickt. Aber Beharrlichkeit zahlt sich aus, wir haben einen weiteren Eingang entdeckt und die Offiziellen dort waren sehr hilfreich. 🙂

      Antwort

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