Im Norden Kanadas kann man Bären sehen. Das ist nicht ungewöhnlich, immer mal wieder überqueren Schwarzbären die Straße. Man sieht die Tiere für wenige Sekunden, Adrenalin schließt durch den Körper, aber das Erlebnis ist schnell vorbei. Nicht vergessen, aber von Bärenbeobachten ist es weit entfernt.


Aber wir wollen mehr. Und dafür nehmen wir eine weite Anfahrt aus den Rocky Mountains in Kauf.
Und endlich, nach knapp 1000 Kilometer, sind wir da: In Hyder, Alaska.
Hyder liegt direkt an der Grenze nach Kanada auf der amerikanischen Seite – und fährt man durch, landet man kurz darauf wieder in Kanada. Daher machen sich die Einwohner gar nicht die Mühe, die Alaska-Zeitzone zu nutzen, sie verwenden dieselbe Zeitzone wie British-Columbia.
Wir kommen am Nachmittag an, melden uns am winzigen Campingplatz an – und fahren gleich weiter zum Nationalpark. Dieser besteht praktisch aus zwei flachen Flüssen, den Creeks, und einem Holzsteg dazwischen, von dem aus man gefahrlos Bären beobachten kann. Falls welche auftauchen. Im Augenblick sehen wir nur drei Ranger und ein knappes Dutzend Besucher.
Aber wir sind Glückskinder.
Nach ca. zwei Stunden ändert sich die Stimmung schlagartig. Obwohl wir uns gerade am Ende des Stegs befinden, liegt plötzlich spürbar Aufregung in der Luft, wir beeilen uns, nach vorne zu kommen. Alle Ranger sind auf den Beinen und halten die Besucher an, ruhig, still und hinter der Absperrung zu bleiben. Auf der Straße läuft eine Grizzlymutter mit ihrem Jungen.
Was für ein Anblick: die Bärin schreitet anmutig voran, das Junge versucht, es ihr gleichzutun, lässt sich aber schnell von der Umgebung ablenken und hüpft dann einfach herum.
Die beiden laufen erst an der Rangerstation vorbei über die Brücke, dahinter verschwinden sie im Gebüsch und klettern hinab in den Creek. Und wir haben vom Holzsteg aus den perfekten Blick.
Es ist gegen Ende der Laichsaison, der Fluss ist voll von Lachsen – allerdings sehen (und riechen) wir deutlich mehr tote als lebendige Lachse. Und so futtert die Bärin eher die tote Lachse und macht sich kaum die Mühe des Jagens. Das Junge scheint die Nahrungssuche noch zu lernen und sieht eher unbegeistert aus. Während die Mutter den Fisch frisst, kaut das Junge eher am Grünzeug neben dem Fluss.
Beide lassen sich Zeit – wir beobachten und genießen.

Grizzly oder Schwarzbär?
In Alaska sehen wir zwei Arten von Bären: Grizzlys und Schwarzbären. Die offizielle Unterscheidung lautet: haben die Tiere einen Buckel, dann sind es Grizzlys. Der Buckel besteht größtenteils aus Muskeln, die zum Graben benötigt werden.
Wir haben aber eine leichtere Unterscheidung gehört: sieht der Bär aus wie ein Mitglieder einer 1990er-Jahre-Boyband, dann ist es ein Grizzly. Und tatsächlich: Das Fell der Grizzlys hat einen helleren Flaum, der an die gefärbten Haare eben jener Boybandmitglieder erinnert.
Klingt lustig, ist aber so.
Noch mehr Bären
Nach einiger Zeit klettern die beiden Bären den Abhang wieder hinauf und verschwinden. Wir plaudern mit den Rangern: diese haben die Grizzlymutter samt Kind zum ersten Mal gesehen und sind entsprechend aufgekratzt. Normalerweise kennen sie die Bären, die regelmäßig zum Creek kommen. Den Kleinen schätzen sie auf ca. zwei Jahre.
Am Eingang zur Rangerstation hängt ein handgeschriebener Zettel, auf dem die Bärensichtungen verzeichnet sind: manchmal sind es zwei bis drei Sichtungen am Tag, manchmal gar keine.
Wir erwarten daher erst mal keine weiteren Tiere – und fahren zum Abendessen zum Campingplatz.
Aber wir sind aufgekratzt, dass wir es kaum erwarten können, weitere Bären zu sehen, daher kehren wir kurze Zeit später zurück. Und wie schon gesagt: wir sind Glückskinder.
Wir kommen gerade mit dem Van an der Rangerstation an, da sehen wir, wie ein Grizzly die Straße überquert und im schmaleren der beiden Creeks verschwindet.
Wir parken und sehen zu, dass wir hinter die Absperrung gelangen.
Der Grizzly spaziert die komplette Länge des kleineren Creeks entlang, wechselt unter unserem Holzsteg in den größeren Fluss und frisst sich satt. Er spielt etwas mit den Lachsen, man sieht, dass er unerfahren ist beim Jagen, aber er kriegts hin.

Lachsjagd: aufregend, aber blutrünstig
Wenn ich schreibe, dass der Grizzly Lachse jagt, klingt das erst mal wildromantisch, oder?
In der Realität ist es aber ein bisschen anders. Der Bär schnappt den Fisch mit dem Maul, schleudert ihn durch schnelle Kopfbewegungen hin und her und bearbeitet ihn mit seinen langen Krallen. Dabei spritzen Blut und Fischeier heraus. Bären, die sich auf den Winterschlaf vorbereiten, brauchen ca. 20.000 Kalorien pro Tag. Das ist mit Beeren kaum zu schaffen, und auch das Fleisch der Lachse bietet nicht so viel. Daher konzentrieren sich die Tiere auf den fetthaltigen Part der Fische: die Leber und die Eier. Dramatisch und erbarmungslos, so ist die Natur halt.

Irgendwann scheint der Grizzly satt zu sein und verschwindet in der Ferne.
Und lässt uns voller Begeisterung und wie auf Wolken schwebend zurück.
Die Ranger berichten, es sei der 5-6-jährige Grizzly gewesen, den sie Runner nennen. Ein 800 Kilo schwerer Muskelberg.
Und wie, um uns zu beweisen, dass Bärensichtungen auch hier in Hyder, Alaska, etwas Besonderes sind, sehen wir am nächsten Tag keinen einzigen Bären. Nur die Weißkopfseeadler zeigen sich.

Runner – die zweite
An unserem dritten Tag in Alaska regnet es in der Früh und wir überlegen bereits, ohne Abstecher zum Fish Creek die Reise gen Süden anzutreten. Aber nach dem Frühstück klart es auf und wir beschließen, noch ein Stündchen auf Bärenschau zu gehen.
Erwähnte ich, dass wir Glückskinder sind?
Keine fünf Minuten nach unserem Auftauchen erscheint Runner in der Ferne. Er zieht langsam den Fluss hoch, frisst, schwimmt, lässt sich Zeit. Diesmal ignoriert er die toten Lachse und gibt sich Mühe, an die Lebenden zu gelangen. Und wir stehen und gucken.

Wir sind völlig hin und weg – und noch Stunden später voller Glück und Adrenalin. Von diesen Bildern im Kopf werden wir beide lange zehren.
Wir machen uns endgültig auf den Weg zurück in die Rocky Mountains.
Am Supermarkt halten wir – und kaufen zu den Klängen der Dixie Chicks („Travelling Soldier“) Wasser und Proviant und fahren los.
Das Leben ist schön.
Und wir werden uns immer gerne an Hyder, Alaska erinnern.


Wer den ersten Teil über den Start unserer Riese durch Vancouver und Kanada verpasst hat, findet ihn hier: